Die Türkei ist rings ums Mittelmeer militärisch aktiv. Dahinter steckt eine neue außenpolitische Doktrin, die auch die Europäer provoziert.
Die Türkei führt in Libyen und im Nahen Osten Kriege, die sie beschönigend "grenzüberschreitende Operationen" nennt. Es geht ihr um Einfluss, um militärische Vorherrschaft, um Energievorkommen und um eigenmächtig abgesteckte Seegrenzen. Ankara ist zu einem bestimmenden Akteur in Libyen geworden und zu einer Kriegsmacht am Mittelmeer und im Nahen Osten, an der keiner mehr so leicht vorbeikommt. Die Türkei hat eine neue Außenpolitik, neue Waffen – und eine neue Idee.
Tripolis im April: Medien berichten, dass der abtrünnige General Chalifa Haftar mit seinen Truppen vor der Hauptstadt Libyens steht. Die von den Vereinten Nationen anerkannte Regierung unter Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch droht unterzugehen. Doch plötzlich wendet sich Haftars Kriegsglück. Seine Truppen geraten unter heftigen Drohnenbeschuss, seine Panzer bleiben stecken, seine Raketen werden abgefangen, seine Milizen weichen zurück. Die Gegner haben auf einmal Raketen und Munition ohne Ende aufzubieten. Auf dem Mittelmeer sichern Kriegsschiffe schier unerschöpflichen Nachschub. Haftar muss den Rückzug antreten. Seither verliert er Region um Region an die voranmarschierenden Regierungstruppen.
Die Macht, die den Bürgerkrieg innerhalb weniger Wochen gedreht hat, ist die Türkei. Sie hat das UN-Waffenembargo gebrochen (wie andere Staaten auch), die Regierung von al-Sarradsch in Tripolis aufgerüstet und in Abhängigkeit von Ankara gebracht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bietet damit nicht nur einer Pro-Haftar-Koalition von arabischen Staaten wie Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten die Stirn, sondern auch Russland. Er durchkreuzt überdies die deutschen Pläne, Libyen durch ein konsequentes Waffenembargo und Verhandlungen zwischen zwei Kriegsparteien im Patt zu befrieden. Erst im Januar waren Repräsentanten der Türkei und andere Akteure im Libyen-Krieg Gäste von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin und unterschrieben eine Abschlusserklärung, in der sie sich zu einer Waffenruhe und der Einhaltung des UN-Waffenembargos verpflichteten. Wochen später wurden die Türken in Libyen zum game changer.
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