Die Ablehnung von Andersheit ist nicht einfach ein Charakterfehler schlecht erzogener Rechtswähler. Sprechverbote allein sind da wenig hilfreich.
Rassismus, die Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers (Albert Memmi), ist keine Erfindung der Weissen. Den Feind zur Kröte zu reden, um ihn danach ohne Gewissensbisse zu versklaven, kam in China, in Japan, Indien, im Osmanischen Reich und selbst innerhalb des vorkolonialen Afrika vor. Arthur de Gobineau, Diplomat, Schriftsteller, Antiaufklärer und Berater Napoleons III., kann mit seinem «Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen» (1853) die Vaterschaft für den westlichen Rassismus beanspruchen. Er stellte eine Rangliste auf, zuunterst die Schwarzen, etwas höher die Gelben, zuoberst die Weissen, und behauptete, Rassenmischung schade immer der höheren Rasse.
Zwar wurden die Ideen des Grafen vor 1935 in keinem europäischen Land gesetzlich verankert, doch das Reden mit Begriffen aus der Pferdezucht wurde selbst in gehobenen Kreisen salonfähig. Dies lieferte den Kolonialmächten die Rechtfertigung, auch noch die letzten unbesetzten Flecken auf der Weltkarte zu erobern und den Eingeborenen weniger Rechte einzuräumen als Europäern. Rassismus wurde so zur Ideologie des Imperialismus. Parallel dazu stützte die englische Übersetzung von de Gobineaus Werk in den USA die Rassentrennungsgesetze (Jim Crow Laws) moralisch ab. Houston Stewart Chamberlain, Brite, Schriftsteller und Gatte einer Tochter Richard Wagners, hakte 1899 mit «The Foundations of the Nineteenth Century» nach, einem Bestseller, der den Chefideologen des Nationalsozialismus Alfred Rosenberg inspirierte.
1916 folgte Madison Grant, Amerikaner, in Yale ausgebildeter Rechtsanwalt, mit seinem Buch «The Passing of the Great Race», das wesentlich zur Asian Exclusion Act von 1924 beitrug, welche die Einwanderung von Japanern und Chinesen in die USA verbot. Die deutsche Übersetzung seines Werkes begeisterte Adolf Hitler. Diese und andere rassistische Bücher aus der Zeit unserer Grosseltern waren nicht Nischenliteratur, sondern wurden zu Hunderttausenden beidseits des Atlantiks gelesen. Sie alle gingen davon aus, dass die weisse Rasse anderen Rassen überlegen und deswegen zum Herrschen bestimmt sei.
Der Untergang des Nationalsozialismus machte dieser Art von Lesegenuss ein abruptes Ende. Spätestens 1945 verschwand das Rassistische aus den Büchergestellen bürgerlicher Haushalte. Getrieben von schlechtem Gewissen und der kommunistischen Konkurrenz, restaurierten die westlichen Siegermächte die europäische Aufklärung. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno von 1948 wurden alle biologischen und kulturellen Varianten des Menschseins einander gleichgestellt.
Die Völkerkundlerinnen Ruth Benedict und, später, Margaret Mead gingen noch einen Schritt weiter. Ethnozentrismus sei Arroganz; und fremde Kulturen könnten nur an ihren eigenen Werten gemessen werden. Der Kulturrelativismus – eigentlich ein radikaler Antirassismus – war geboren. Multinationale Konzerne und die Uno setzten das ethnisch gemischte Management in die Praxis um. Mein erster Chef beim UNDP war Koreaner, der zweite Japaner, der dritte ein afrikakritischer Togolese. Die 1986 in New York noch üblichen Sprüche über anderes Aussehen oder Akzente galten im Uno-Gebäude als unfein. Das «schwarze Schaf» und jede Redensart, die als verletzend hätte empfunden werden können, wurden mit missbilligenden Blicken sanft ausgerottet.
Das konfliktscheue Reden im gemischten Management war ein Fortschritt mit Nebenwirkungen: Es führte dazu, dass weisse und japanische Vorgesetzte aus Angst vor der Rassismus- oder Kolonialismuskeule es nur in Extremfällen wagten, den Kollegen des Afrikabüros oder der Nahostabteilung professionelle Mängel vorzuwerfen. Es half nichts, zu wissen, dass die meisten arabischen Länder viel länger durch das Osmanische Reich kolonisiert waren, welches den Handel mit schwarzen Sklaven so intensiv und so brutal betrieb wie der Westen. Unsere Kollegen, die an Ivy-League-Universitäten ausgebildeten Söhne und Töchter afrikanischer Chefs und arabischer Scheichs, sahen sich noch vierzig Jahre nach der Unabhängigkeit als Opfer, mit uns als Tätern.
Als ich im Entwicklungskomitee (DAC) der OECD zu arbeiten begann, hatte das konfliktscheue Reden die Entwicklungsdebatte erreicht. Sich im DAC des Neokolonialismus oder des Rassismus verdächtig zu machen, war karriereschädigend. Oft näherte sich das konfliktscheue Reden dem Surrealen. Jeder der dreissig Delegierten kannte die Probleme armer Länder, pardon, «Partnerländer», unterfinanzierte Schulen, Vernachlässigung der Mint-Fächer, unqualifizierte Minister, Clanwirtschaft, fehlender Rechtsstaat, Korruption, doch Regierungen direkt zu kritisieren, glich einer diplomatischen Todsünde.
Statt konkret zu sagen, was an der Governance in Burkina Faso mangelhaft sei, hiess es, es gebe dort «Raum für Verbesserungen». Statt zu sagen, Auslandhilfe habe wegen der gleichzeitigen Bevölkerungszunahme in der Sahelzone nichts erreicht, hiess es, «die Demografie und das Kulturelle dort bleiben eine Herausforderung». Statt zu sagen, der Mangel an Fortschritt in vielen Teilen Afrikas sei auch die Folge einer konzeptlosen Kindererziehung, die Selbstverantwortung und Leistungswillen kleinschreibt, hiess es, die Geber müssten eben die Bildungsbudgets besser finanzieren. Und statt zu sagen, in islamischen Schulen werde dem Glauben mehr Zeit eingeräumt als dem kritischen Denken, schwieg man. Probleme, die nicht benannt werden dürfen, bleiben ungelöst. Ein guter Teil des Misserfolgs der internationalen Zusammenarbeit in Afrika und in arabischen Ländern hat damit zu tun, dass weder die Vertreter der Weltbank noch die der Uno oder der Entwicklungsagenturen mit den Eliten Klartext sprechen.
Mit der politischen Korrektheit wurde das konfliktscheue Reden auch auf anderen Gebieten trendig. Dass dieses gestelzte Wort kurz nach der Wende die Welt eroberte, lag am Zeitgeist. Die Auflösung der Sowjetunion galt im Westen als Sieg des Liberalismus und der Marktwirtschaft. Im Vakuum, kreiert durch das «Ende der Geschichte», breitete sich im Englischen ein Reden nach Regeln aus, das niemanden auf der Welt ausschloss und alle einschloss, die sich modische T-Shirts und Mobiltelefone leisten konnten.
Politische Korrektheit wurde so zur Ideologie der Globalisierung. Vom Europa links der Mitte beflissen aufgenommen, dehnte sich die korrekte Sprechgewohnheit auf Gender, Alter, Rasse aus. Das Resultat nach fünfundzwanzig Jahren geschönter Wirklichkeit ist lamentabel. Noch nie ist in Leserbriefen und in sozialen Netzwerken derart unzivilisiert über Menschen mit abweichenden Meinungen, Herkunft oder Aussehen gesprochen worden wie heute.
Beim Rassismus steckt die Diskussion in einer Sackgasse, wo es fast nur noch Platz gibt für gute Antirassisten und böse Rassisten. Statt Wirklichkeit mit Sprache verändern zu wollen, müsste es eigentlich darum gehen, die veränderbaren Stigmata zu beseitigen, welche rassistische Gefühle verursachen oder verstärken. Die Ablehnung von Andersheit ist nicht einfach ein Charakterfehler schlecht erzogener Rechtswähler. Durch Sprechverbote in den Untergrund abgedrängt, kommt sie immer dann an die Oberfläche, wenn Hautfarbe, Ethnizität, Nationalität mit Armut, Ungebildetheit, Vulgarität oder Kriminalität einhergehen. Zum Beispiel, wenn die Mehrheit der Drogenhändler in Lausanne Nigerianer sind oder wenn Islamisten in der westlichen Welt Terroranschläge begehen.
Was sollte die politische Korrektheit ersetzen? Ein ehrlicher mitmenschlicher Umgang ohne spezielle Regeln gegenüber bestimmten Gruppen. Eine Rückbesinnung auf Stil, guten Geschmack, kritische Höflichkeit also. Für krasse Fälle gibt es das Strafgesetzbuch. Expatriierte Nichtweisse in meinem privaten Umfeld am Genfersee empfinden die politische Korrektheit zunehmend als Paternalismus, wenn nicht als Beleidigung. Das Schandwort «Rassist» werde heutzutage inflationär angewendet, finden sie. Was heute im Weissen Haus und auf den Fussballplätzen Europas geschehe, sei traurig, aber nicht mit dem Rassismus der Kolonialzeit vergleichbar. Menschen anderer Hautfarbe und Augenform seien keine Kinder. Sie wüssten sehr wohl, wie man sich wehre. Ein verbaler Tollpatsch blamiere schliesslich nur sich selbst.
https://www.nzz.ch/meinung/zwischen-rass...heit-ld.1347747